von Prof. Dr. Rainer Warland
In der Bombennacht des 27. November 1944 versank die vormalige Jesuitenkirche, die heutige Universitätskirche, in Schutt und Asche. Der Feuersturm vernichtete die gesamte Ausstattung und liess die mit Stuck überladenen Gewölbe bersten. Bis heute ist die Kirche, die der Hochschulgemeinde zur Heimat geworden ist, ein monumentales Zeugnis der Gewalt, die Menschen Menschen antun.
Beim Wiederaufbau nach dem Krieg verzichtete man auf eine vollständige Rekonstruktion der einstigen Jesuitenkirche. Nur die Pfeiler und die Gebälkstücke, die der barocken Wandpfeilerbasilika ihre Struktur geben, wurden wiederhergestellt. Die Gewölbe aber, die Tonnen und Kappen, und das Apsisgewände sind seither leer. Wenn man den Verlust einschätzen will, muss man den Schwesterbau von Heinrich Meyer in Solothurn zum Vergleich heranziehen.
Unwiederbringlich verloren ist der raumhohe Altarprospekt, der die Blickachsen des barocken Kirchenraumes beherrschte. Seither eignet der Universitätskirche eine gewisse Leere, ja Kälte. Nehmen wir diese Eigenart bewusst an, so ist sie ein bleibende Erinnerung für den Unfrieden und die Katastrophen, die die Menschen sich selbst zu fügen und die sie nicht aus eigener Kraft zu heilen vermögen.
Die Plastik des Gekreuzigten von Franz Gutmann ersetzt nicht den Verlust des barocken Altarwerkes. Sie nimmt vielmehr die genannte Situation des Raumes auf. Sie macht erst gar nicht den Versuch, das Volumen des Apsisraumes zu füllen. Im Gegenteil. Sie durchschneidet wie eine gespannte Sehne den Raum in seiner ganzen Höhe – scharf und klar und monumental zugleich. Die 16 m hohe Plastik antwortet auf die Dimensionen des Raumes. Die vorgenannte Spannung der Leere und Kälte überträgt sie auf das entsetzliche Thema der Kreuzigung selbst.
Seit 1988 steht die Plastik des Münstertaler Bildhauers Franz Gutmann im Altarraum der Universitätskirche. Die Kontroversen, die ihre Aufstellung begleiteten, seien hier übergangen. Lange heftig umstritten ist ihre Akzeptanz heute gestiegen. Doch ist sie auch in ihrer Eigenart verstanden? Was konkret haben wir vor uns?
Eine monumentale Plastik aus Stahl und Holz. Einen raumhohen Stahlträger, unbehandelt, rostig, roh – ein Produkt technischer Ingenieurskunst, aus dem man Schienen macht, Geschossdecken und Brücken. Und daran aufgehängt ein 5,65 m hoher Monolith aus Holz. Den geeigneten Eichenstamm hat Gutmann im Freiburger Stadtwald gefunden. Er ist auf der Rückseite der Länge nach ausgehöhlt, damit nicht nur das Gewicht reduziert wurde, sondern auch der Gefahr vorgebeugt wurde, dass das Holz reisst.
Zwei Stahlseile, die wir in dieser Funktion bei Vordächern oder Brücken kennen, dienen als Aufhängung des Holzblocks. Zwei Befestigungsanker markieren die Stellen der Schultern, an denen die fehlenden Arme ansetzen müssten.
Stahl und Holz – gegensätzlicher könnten die Materialen nicht gewählt sein. Stahl – kantig und hart, eben stahlhart – und Holz – organisch, warm und formbar, von Wachstum und Alterung gezeichnet. Schon der Werkstoff Holz stiftet in dieser Kombination Lebensnähe.
In seiner gelängten Form gleicht sich der Holzkorpus gänzlich dem Stahlträger an. Wie ein nach unten zulaufender Pfahl tritt der überlängte Körper des grausam Geschundenen nur gering über den Stahlträger vor. Die Arme fehlen gänzlich. Um den Kopf windet sich ein riesiges Dornengeflecht von abstossender Brutalität.
Schon der erste Zugang zum Werk zeigt, dass die Massstäbe der Bildtradition in Frage gestellt sind. Die Kategorie eines Kruzifixus – einer historisierenden Wiedergabe des sterbenden Christus nach dem Bericht der Evangelisten – ist der falsche Massstab. Die Vorgaben der Konvention greifen nicht. Wir brauchen eigene Kategorien, die aus unserer Zeitgenossenschaft, aus unserer Wahrnehmung der Realität, erwachsen. Statt einer Kreuzigung sehen wir einen grausam Gefolterteten. Statt eines Kruzifixus eher eine Christusplastik mit Attributen der Kreuzigung, statt gefälliger Schönheit nun Ernst und Sprachlosigkeit.
Dennoch steht eine christliche Textreferenz bereit, die hier eine Vermittlung leisten kann.
Das Paradigma des leidenden Gottesknechtes nach den Gottesliedern des Jesaja eröffnet einen ersten Zugang zur Darstellungsart. Die zeitgenössische Kunst hat hier seit den sechziger Jahren den entscheidenden Anknüpfungspunkt gefunden, sich dem christlichen Kreuzigungsthema zu nähern.
Im Buch Jesaja 52,14 heisst es: „Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen.“ Und weiter heisst es in den theologischen Liedern vom Gottesknecht: „Er war einer vor dem man sich abwendet und aber er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Er wurde wegen unserer Sünden zermalmt.“
Hier knüpft Gutmann mit seiner Plastik an und sucht seinen eigenen Ausdruck der Formensprache: Die Arme des Gekreuzigten, die in der Vätertheologie noch als kosmisches Zeichen für das allumfassende Erlösungsgeschehen interpretiert wurden, sind verzichtbar.
Stattdessen klingt die neuzeitliche Werkkategorie des Torsos an: Der bewusst herbeigeführte Charakter des Unvollständigen dient der Konzentration der Mitteilung. Der Rumpf als Inbegriff der Lebensmitte und als Metapher der Endlichkeit des Geschöpflichen wird in groben Zügen angelegt. Die Bildfassung des Kreuzesthemas ist nicht narrativ, sondern selektiv, bruchstückhaft.
Der gelängte Korpus des Gekreuzigten wird zugleich radikal in Beziehung gesetzt zur Vertikalen, die am oberen Ende des Stahlträgers durch drei quadratische, goldene Felder akzentuiert wird. Die Inschrifttafel, die den König der Juden dem Gespött preisgeben sollte, bietet hier formal den Bezugspunkt. In der Zahlensymbolik wird hier eine trinitarische Umdeutung angelegt. Tatsächlich ist die Anrufung des Vaters durch den sterbenden Christus einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte trinitarischer Theologie, die bereits Paulus in 1 Kor 15, 20-26 aufgreift.
Und schliesslich ist da die Nagelung der Füsse mit einem einzigen Eisenstift. Sie zitiert unmittelbar den Einnageltypus mittelalterlicher Kruzifixe. Wie zwei Holzscheiben liegen die verrenkten Füsse aufeinander, während ein riesiger Eisenstift sie durchbohrt. Er steht kräftig vor, wie es auch die Holzstifte der Dornenkrone tun. Einnageltypus, Standmotiv, gelängter Leibrock sind vergleichsweise die konventionellsten Motive, die Gutmann hier verwendet und die entlasten für eine neuartige Gewichtung des Kopfes als Mitte der Aussage.
Der Kopf Christi ist nach Position und Übergrösse der Aussageträger der Plastik schlechthin. Nur er erfährt eine intensive Detailschilderung. Und doch ist es nicht, wie zu erwarten wäre, das Gesicht selbst, das die Blicke bindet. Der Betrachter, der den Kontakt mit dem Gekreuzigten aufnehmen möchte, wird schroff zurückgewiesen. Das Gesicht bleibt verborgen hinter einem undurchdringlichen Dickicht aus Astwindungen, Dornen und Stacheln. Nur im verschatteten Grund knüpfen Bart und schulterlanges Haar an die historische Ikonographie des Christusporträts an.
Wiederum durchkreuzt die Christusplastik kräftig unsere Sehgewohnheiten. Die vermeintliche Dornenkrone krönt nicht den Kopf, sie liegt nicht dem Haupt auf. Sie entzieht das Gesicht jeglicher Konkretion und verleiht dem Bildwerk insgesamt einen an-ikonischen Charakter. Es ist gerade diese Verweigerung des Bildnisses, die die eigentümliche Verfremdung des Christusthemas bestimmt.
Nicht die ausgerenkten Gliedmassen, sondern der Kopf fokussiert das stellvertretende Leiden des Gottesknechtes. Statt Dornen sehen wir bohrende Nagelstifte – übergross, tief verletzend, marzialisch -, alle Gewalt, Katastrophen, Folter unserer Zeit auf sich ziehend. Dennoch fliesst kein Blut wie beim spätgotischen Pestkruzifixus, keine Echthaarperücke sichert die grössere Realitätsnähe. Nicht die Compassio, das Mit-leiden des Betrachters im mittelalterlichen Bildverständnis, ist beabsichtigt. Die Plastik von Gutmann ist gänzlich ungefasst und dennoch von unmittelbarer Gegenwart. Sie bleibt in aller Konkretion zugleich abstrakt und damit in einem guten Sinne vieldeutig.
Mehr noch, die Christusplastik kehrt den Ort der Gottesverlassenheit in den Ort der Gottesbegegnung. Das unzugängliche Gestrüpp der Dornen verwandelt sich zugleich zur Metapher des brennenden Dornbusches, zum Ort der Gottesbegegnung. Der Dornbusch als Metapher der Theophanie ist wohl die eigenständigste Umformung und Verknüpfung der Bildsprache, die Gutmann hier gelungen ist. Die Anregung soll er bei einem Vortrag von Pinchas Lapide erhalten haben, der die entsprechende Beziehung zwischen jüdischer und christlicher Tradition herstellte.
Die langen, kräftig auseinderstehenden Holzstifte sind zugleich zu Strahlen umkehrbar, die um den Kopf eine Aura stiften. In den Folterwerkzeugen ist das andere Königtum Christi angedeutet, dass alle Herrschaft konterkariert, so wie das Evangelium nach Matthäus 25, 31-46 von einem König spricht, der am Ende der Zeit nach ganz neuen Massstäben richten wird.
Gutmanns Christusplastik ist von der Vertikalen beherrscht. Dennoch besitzt sie wie jede Plastik mehrere Ansichtsseiten. Wollte man eine Postkarte von ihr anfertigen, das Vorhaben müsste scheitern. Man müsste zumindest zwei Fotos kombinieren. Neben der Frontalansicht, bietet die Seitenansicht eine entscheidende Ergänzung.
Der gefolterte Christus neigt seinen Kopf dem Betrachter entgegen. Der Körper selbst biegt sich vor. Die Aufhängung an den Drahtseilen ermöglicht hier eine ungewöhnlich weite Lösung des Korpus vom Träger, die inhaltlich verstanden werden darf. Der Moment grösster Gottesverlassenheit wird zum Ort der Heilszuwendung Gottes zum Menschen. Die Plastik besitzt so letztendlich eine zutiefst versöhnende Aussage.
Verlassen wir die schützende Distanz des Betrachters und beziehen wir zum Schluss Stellung aus der Sicht des Christen: Die Plastik verstehe ich in einem ganz wörtlichen Sinne als Denk-mal. Es ist kein Kultbild, kein herkömmlicher Gegenstand liturgischer Ausstattung. Es ist ein hochaufragender, zum Himmel weisender Pfahl, der zu unserer Erinnerung aufgerichtet ist, zu unserem unauslöschlichen Gedächtnis. Es ist ein Erinnerungs-Mal, das an das Grunddatum unserer Erlösung durch den Kreuzestod Christi erinnert.
Das Christentum besitzt ein Gottesbild, das menschlicher Projektion radikal widerspricht: Das Bild eines Gottes, der leidet. Es ist zugleich das Bild eines Gottes, dessen Königtum von anderer Art ist als alle Reiche und Ideologien dieser Zeit. Vielleicht ist es das einzige Bild von Christus dem König, das nach Auschwitz möglich.
Die Kreuzplastik ist ein Erinnerungmal, das Identität stiftet. Es fordert unsere Parteinahme, unserer Bekenntnis als Anhänger des schändlich Gekreuzigten heraus. Die Plastik des Gekreuzigten ist ein Mahnmal des Protestes gegen alle Gewalt, die Menschen Menschen antun. Einer Hochschulgemeinde steht ein solches Erinnerungsmal, das Unruhe stiftet und dennoch zugleich Versöhnung zu sagt, wie sie nur Gott schenken kann, gut an.