Bücher findet Eva Erdmann peinlich. Natürlich nicht immer, nicht überall, aber heute schon. Das klingt für alle, die sie gut kennen, erstmal komplett falsch. Eva Erdmann? Die Romanistikdozentin, die sich zu Semesterbeginn extra die Zeit nimmt, in der Bibliothek liebevoll die Literatur für ihre Seminare zusammenzustellen? Diese offensichtliche Literaturliebhaberin soll Bücher peinlich finden? Niemals. Doch als Eva Erdmann zu ihrem Fotoshooting kommt und sie den Bücherstapel sieht, den wir für sie als Kulisse aufgestellt haben, kann sie ein verstohlenes Augenrollen nicht unterdrücken. Unser Ansatz sei ja klassisches Schubladendenken, meint sie.
Wer von uns dachte, sie würde einen dicken Schmöker als Accessoire mitbringen, liegt meilenweit daneben. Statt einer Ausgabe von Voltaire packt sie einen Laptop aus. Literaturwissenschaften, zu denen auch ihr eigenes Fach gehört, werden viel zu oft als gestrig angesehen, als ausgestorben, als irrelevant. Eva Erdmann kann und will dieses Stereotyp nicht verkörpern, ihr Fokus richtet sich auf die Zukunft: Bereitschaft für kommenden Wandel, Loslassen von veralteten Denkweisen, das Ziel, ein frischer Wind im Hörsaal zu sein.
Doch was ist Zukunft ohne ein gewisses Maß an Flexibilität? Offensichtlich wenig wert. Die Studierenden der Kurse von Eva Erdmann werden von ihrer Art mindestens genau so sehr überrascht wie wir. Mit Leichtigkeit schafft sie es, ihr Vokabular anzupassen, um ihre Kurse für verschiedenste kulturelle und sprachliche Hintergründe zu öffnen, vom Deutschen ins Französische und im nächsten Satz ins Spanische zu springen, ohne sich dabei verbiegen zu müssen. Als sie zu Beginn von Corona ihre Online-Seminare aus dem sonnigen Mensagarten streamte, konnten ihre Studierenden nur grinsen. Wenn irgendjemand so eine coole Aktion bringt, dann mit Sicherheit Eva Erdmann.
Wir unterhalten uns viel über das Thema Verständigung und die Schwierigkeit des Sich-Begegnens in Gesprächen. „Ich bin ganz schlecht darin, mich auszudrücken“, meint sie in einem Nebensatz. Da muss ich natürlich nachhaken. Jemand, der Proust von vorne bis hinten durchzitieren kann – und dies wahrscheinlich in mehreren Sprachen – , wird doch in der Lage sein, die richtigen Worte zu finden? Das komme aufs jeweilige Medium an, erklärt sie. Eine WhatsApp-Gruppe mit 15 Leuten ist viel schwieriger zu handhaben als ein Kolloquium. Und was sind überhaupt die passenden Emojis für den Anlass? Der Übergang zwischen einem Roman, den keiner liest, maximal mit einem traurigen Daumen nach oben verziert, und einem forschen „Ok“, wie es so manch schreibfaule Person gerne verschickt, ist eben selbst für eine Literaturwissenschaftlerin schwer zu navigieren.
Abgesehen davon kennt sich Eva Erdmann gut mit kniffligen Situationen aus. Sie hat eine der wenigen unbefristeten Stellen im akademischen Mittelbau am Romanischen Seminar in Freiburg. Die realen Umstände – Berufungslisten gefüllt mit männlichen Vornamen, keine weiblichen Vorbilder in den Professuren eines typischen Frauenfachs, die künstlich verlängerte Adoleszenz des sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchses – fest im Blick, entschied sich Eva Erdmann einst für einen sicheren und erfüllenden Mittelbau. Besonders, dass Lehre und Forschung zusammengehören, kommt ihr dort sehr gelegen, die Vermittlung von Literatur und literaturwissenschaftlichen Fragen gehört aus ihrer Sicht zur Wissenschaft dazu. Auch eine unbefristete Stelle im Mittelbau ist ein Lottospiel, aber eines das Eva Erdmann nicht bereut – ihre Studierenden, vor allem junge Frauen wie ich, tun das für sie.
Wenn auch nicht durch diesen Titel ausgezeichnet, ist Eva Erdmann die Art von Person, die viele gerne als Professorin hätten. Bei ihr gibt es keine veralteten Foliensätze, bei denen nicht mal die Jahreszahl aktualisiert wurde, nicht dieselben drei alten, männlichen Autoren, die Jahr für Jahr den Literaturkanon repräsentieren sollen. Aber das ist nicht alles. Sie versteht die Frustration der Studierenden. Eine Lehrperson auf 100 Studierende – wie soll das bitte funktionieren? Feedback gibt es höchstens in Form eines kurzen Kommentars, Individualbetreuung oder konkrete Rückmeldungen sind bei einer solchen Besetzung nicht möglich. Die Universität als Ort des Wissens und der Wissensvermittlung funktioniert so wirklich nur mittelmäßig, und Eva Erdmann sieht sich, mit Cervantes in der einen und ihrem Laptop in der anderen Hand, manchmal auch wie auf einem sinkenden Schiff.
Neben ihrer Tätigkeit als Dozentin ist sie auch aktives Mitglied der internationalen Forschungsgruppe „Crime Fiction Group“, die ihren Hauptsitz in Irland hat. Zwischen komplexen Analysen zu Räumen und Orten populärer Krimi-Romane versucht sie den Fall zu lösen, wieso ich trotz meiner französischen Abstammung die Sprache kaum beherrsche. Ihre Ermittlungen führen sie jedoch lediglich zu einem erstaunten „Ah, pourquoi?“, mehr gibt es bei dieser Spurensuche leider nicht zu holen. Es lässt sich wohl nicht jedes Rätsel literaturwissenschaftlich aufrollen.
Findet Eva Erdmann Bücher also wirklich peinlich? Natürlich nicht immer, natürlich nicht überall, aber wenn es um Schubladendenken geht, dann schon.
Portrait von Leah Bohr
Leah Bohr hat ihren Bachelor in Anglistik und Kognitionswissenschaft an der Uni Freiburg gemacht und studiert jetzt letzteres jetzt im Master in Tübingen. Wenn sie nicht gerade am Arbeiten oder Programmieren ist, findet man sie meistens im Gym oder draußen auf ihrem pinken Fahrrad. Trotz ihrer Workaholic-Tendenz weiß sie, wie man entspannte Abende auf dem Balkon mit selbstangebauten Tomaten genießen kann. Ihre Spanisch-Kenntnisse hat sie zu großen Teilen durch Anime Untertitel erworben.