Siegelement der Uni Freiburg in Form einer Blume

„Darüber nachdenken, was Objektivität konkret bedeutet“

Freiburg, 17.12.2024

„Feministische Epistemologien“ heißt das aktuelle Buch von Prof. Dr. Frieder Vogelmann, er hat es gemeinsam mit Dr. Katharina Hoppe von der Universität Frankfurt a. M. im Suhrkamp Verlag herausgegeben. Der Reader enthält Grundlagentexte feministischer Erkenntnistheorien von den 1970er Jahren bis heute, zum Teil erstmals auf Deutsch übersetzt. Vogelmann ist Professor für Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie am University College der Universität Freiburg (UCF); im Interview spricht er darüber, was diese Ansätze heute für die Wissenschaften bedeuten können.

Portraitbild von Prof. Dr. Frieder Vogelmann
Prof. Dr. Frieder Vogelmann. Foto: Peter Herrmann

Herr Vogelmann, feministische Erkenntnistheorien gehen davon aus, dass Wissen nicht in einer Art neutralem Vakuum entsteht, sondern eingebettet ist in historische und soziale Strukturen, die Einfluss auf wissenschaftliches Arbeiten haben. Was bedeutet das konkret?

Das bedeutet, dass in wissenschaftliche Projekte immer wieder Vorannahmen aus der sozialen Umwelt einfließen und auch die Ergebnisse beeinflussen. Dazu gibt es inzwischen reichhaltige Studien. Ein bekanntes Beispiel stammt aus der Archäologie: Die These, dass Männer in der Steinzeit als Jäger unterwegs waren und Frauen als Sammler, ist im Wesentlichen eine Projektion der Genderverhältnisse aus unserer Gesellschaft auf die Steinzeit und lässt sich nicht durch archäologische Funde belegen. So haben etwa Archäolog*innen das Fangen kleiner Wildtiere in Publikationen oft als „Jagen“ bezeichnet, wenn diese Tätigkeit von einem Mann ausgeübt wurde, aber als „Sammeln“, wenn sie von einer Frau ausgeübt wurde – obwohl es um dieselben Tiere ging. Solche Beispiele haben feministische Epistemologinnen vor Augen, wenn sie von systematischen Verzerrungen sexistischer und androzentrischer Art in unseren Forschungspraktiken sprechen, die die Ergebnisse beeinflussen können. Das gilt es zu analysieren.

Und was folgt aus dieser Analyse für die wissenschaftliche Praxis?

Wie man auf diese Analyse reagieren sollte, ist heiß umkämpft – auch im Feld der feministischen Epistemologien selbst. Ich nenne mal zwei wichtige Positionen: Das eine ist der sogenannte feministische Empirismus, der sagt: Aufgrund der angesprochenen Verzerrungen wird die Wissenschaft ihrem Anspruch auf neutrale, aperspektivische Forschung nicht gerecht, deshalb müssen wir rigoroser werden und diese Verzerrungen durch geeignete Maßnahmen – zum Beispiel kritischere Überprüfungen von Daten und deren Erhebung – so gut es geht beseitigen. Andere Positionen gehen weiter und sagen, dass Objektivität als Aperspektivität schon eine falsche Vorstellung ist – weil sie genau dazu führt, dass wir immer wieder die sozialen Voraussetzungen als Teil der Wissenschaftspraktiken übersehen und sie nicht analysieren können. Die Philosophin Sandra Harding nennt das „schwache Objektivität“. Ihr Gegenvorschlag, die „starke Objektivität“, macht eine Selbstreflexion des sozialen Umfelds zum Bestandteil jedes wissenschaftlichen Projekts. Ihre Position bezeichnet man als Standpunkttheorie, die von marginalisierten Positionen ausgeht, aber natürlich nicht bei ihnen stehenbleibt.

Stehen damit Objektivität und Wertfreiheit als klassische Ansprüche an Wissenschaft in Frage?

Das sind zwei zentrale Begriffe in dem Feld – die Diskussionen dazu unterscheiden sich allerdings: Die meisten feministischen Erkenntnistheoretikerinnen haben von Anfang an gesagt, wir können und wollen Objektivität als Ideal nicht über Bord werfen, wir müssen sie aber anders verstehen. Bei der Wertfreiheit sieht es anders aus: In der Wissenschaftstheorie ist inzwischen ziemlich unumstritten, dass Wertfreiheit als Ideal weder möglich noch notwendig ist. Zum Beispiel bringen Ethikkommissionen bestimmte moralische Werte in die Forschung ein, es gibt Kriterien für Forschungsförderung, Universitäten haben Leitbilder… Aber selbst im Innersten der wissenschaftlichen Praktiken, wo es nur um Hypothesen, Evidenzen und so weiter geht, spielen nicht-epistemische Werte eine Rolle, also Werte, die nicht nur auf Wahrheit zielen – etwa bei Risikoabschätzungen in der medizinischen Forschung. Die feministischen Epistemologien haben das schon sehr früh angesprochen.

Das bedeutet aber nicht, dass Wissenschaft und politischer Aktivismus dasselbe wären…

Nein, es bedeutet, dass man in der Wissenschaft weiter objektiv und neutral vorzugehen hat – aber darüber nachdenken muss, was das konkret heißt. Und es bedeutet, dass die beliebte Trennung nach dem Motto „Wissenschaft beschäftigt sich mit Fakten, Politik mit Werten“ nicht funktioniert. Wissenschaft ist immer durchsetzt von politisch-moralischen Entscheidungen; es ist ja auch gut, dass wir nicht einfach amoralische Wissensarbeiter*innen sind. Andererseits muss man auch die einfache Gleichsetzung vermeiden, die behauptet, am Ende wäre sowieso alles Politik. Den Wissenschaften geht es darum, Evidenz zu erzeugen – und die lässt sich nicht beliebig herstellen.

Welche produktiven Ansätze sehen Sie in aktuellen feministischen Erkenntnistheorien?

Die von Miranda Fricker in Gang gesetzte Diskussion um epistemische Ungerechtigkeit, also die Erkenntnis, dass im Bereich des Wissens spezifische Formen von Ungerechtigkeit auftreten können. Ein Beispiel wäre die Beeinträchtigung von Frauen oder People of Colour, wenn sie Wissen weitergeben – man kann zeigen, dass diesen Sprecher*innen aufgrund von Vorurteilen weniger Glaubwürdigkeit zugeschrieben wird. Ein zweites, damit verbundenes Feld ist die so genannte Epistemologie des Nichtwissens. Nichtwissen wird darin als aktive Praxis des Nicht-Wissen-Wollens analysiert. In Deutschland untersagt etwa der Bund immer wieder systematische Forschungen zu Rassismus in Sicherheitsbehörden. Auch im Alltag gibt es Praktiken des Nicht-Wissen-Wollens, zu denen es spannende Forschungen gibt. Ein dritter, aktuell sehr produktiver Bereich ist die Verbindung von feministischen Epistemologien und post- sowie dekolonialen Ansätzen.

Warum lösen solche Themen eigentlich immer wieder derart heftige Reaktionen aus?

Zum einen stellen selbstreflexive Momente in Frage, was man bisher gewusst und getan hat: Sich damit beschäftigen zu müssen, was Objektivität heißt, kann nerven und sehr verunsichernd sein, weil die bisherige Praxis angezweifelt wird. Daneben haben die Reaktionen etwas mit einem tief sitzenden Sexismus und Androzentrismus in den Wissenschaften zu tun. Der ist hinreichend belegt und es ist unangenehm, daran erinnert zu werden, dass man solche Strukturen vielleicht unbemerkt weiterträgt. Außerdem nutzen rechte, autoritäre Bewegungen weltweit seit längerem den so genannten Anti-Genderismus als ein Schwerpunktthema zur Mobilisierung. Allerdings weigern sich viele Kritiker*innen, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, was im Feld feministischer Epistemologien eigentlich geschrieben und diskutiert wird. Hinter unsrem Buch steht die vielleicht idealistische Hoffnung, dass es doch einige Leute gibt, die es genauer wissen wollen und die die möglicherweise entstehende Verunsicherung als gewinnbringend empfinden – nicht zuletzt für gegenwärtige politische Debatten.

Das Interview führte Thomas Goebel

Weitere Informationen

Feministische Epistemologien. Ein Reader. Herausgegeben von Katharina Hoppe und Frieder Vogelmann. 576 S., Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2024.

Buchvorstellung am 9. Januar 2025 ab 18:15 Uhr in Hörsaal 1015, Kollegiengebäude I der Universität Freiburg. Mit Sabine Flick (Institut für Soziologie, PH Freiburg), Katharina Hoppe (Institut für Soziologie, Uni Frankfurt a.M.), Marion Mangelsdorf (Zentrum für Anthropologie und Gender Studies, Universität Freiburg) und Frieder Vogelmann (University College Freiburg).

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