Siegelement der Uni Freiburg in Form einer Blume

Bioinspirierte wetterabhängige adaptive Gebäudeverschattung

Freiburg, 14.01.2025

Kiefernzapfen als Vorbild: Forschende der Universitäten Freiburg und Stuttgart haben ein neues, energieautarkes Fassadensystem entwickelt, das sich selbstständig an das Wetter anpasst. Angebracht wurde dieses „Solar Gate“ an der livMatS Biomimetic Shell, einem Forschungsgebäude der Universität Freiburg und Baudemonstrator des Exzellenzclusters Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) und des Exzellenzclusters Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC). Die Zeitschrift „Nature Communications“ hat die Forschungsergebnisse veröffentlicht.

Der Blick von Außen auf das adaptive, selbstanpassende Verschattungssystem „Solar Gate“
Das adaptive, selbstanpassende Verschattungssystem „Solar Gate“ unterstützt die Klimaregulierung von Gebäuden. Foto: ICD/IntCDC University of Stuttgart

„Wetterreaktive, architektonische Fassadensysteme sind meist auf aufwendige technische Vorrichtungen angewiesen. Unsere Forschung untersucht, wie wir die Reaktionsfähigkeit des Materials selbst durch computerbasierte Planungsmethoden und additive Fertigung nutzbar machen können“, so Professor Achim Menges, Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) und Sprecher des Exzellenzclusters Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC) der Universität Stuttgart. „Wir haben ein Verschattungssystem entwickelt, das sich abhängig von den Wetterbedingungen selbstständig öffnet und schließt, ohne dass dafür jegliche Betriebsenergie oder mechatronische Elemente benötigt werden. Die Biomaterialstruktur selbst ist die Maschine.“

Mithilfe von bioinspirierten Designs, natürlichen Materialien und allgemein zugänglichen Technologien haben Forschende der Universitäten Stuttgart und Freiburg das Fassadensystem „Solar Gate“ entwickelt – das erste wetterabhängige, adaptive Verschattungssystem, das nicht auf elektrische Antriebsenergie angewiesen ist. Als Vorbild für das „Solar Gate“ dienten den Wissenschaftler*innen die Bewegungsmechanismen von Kiefernzapfen, die sich bei Veränderungen von Luftfeuchtigkeit und Temperatur öffnen und schließen, ohne dabei Stoffwechselenergie zu verbrauchen. Dem Team ist es gelungen, die anisotrope (richtungsabhängige) Struktur der Zellulose in Pflanzengeweben mit Standard-3D-Druckern nachzubilden. Die Forschungsergebnisse wurden in der Zeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.

Biobasierte hygromorphe Materialien und bioinspirierter 4D-Druck

Zellulose ist ein natürliches, reichlich vorhandenes und erneuerbares Material, das bei Feuchtigkeitsschwankungen quillt und schrumpft. Diese Eigenschaft, die als Hygromorphie bezeichnet wird, ist in der Natur häufig zu beobachten, beispielsweise beim Öffnen und Schließen der Schuppen von Kiefernzapfen oder bei den Blütenständen der Silberdistel. Das Forschungsteam machte sich diese hygromorphe Eigenschaft zunutze, indem es biobasierte Zellulosefasern maßgefertigt und im 4D-Druckverfahren in eine zweischichtige Struktur gebracht hat, die von den Schuppen des Kiefernzapfens inspiriert ist.

Materialsysteme, die per 4D-Druckverfahren, einem Verfahren der additiven Fertigung, hergestellt werden, können ihre Form als Reaktion auf äußere Einflüsse selbstständig verändern. Für das „Solar Gate“ entwickelten die Forschenden eine computergestützte Herstellungsmethode zur Steuerung der Extrusion von Zellulosematerialien mit einem Standard-3D-Drucker, die das selbstformende und reversible Verhalten von 4D-gedruckten Materialsystemen nutzt. Bei hoher Luftfeuchtigkeit nehmen die Zellulosematerialien Feuchtigkeit auf und dehnen sich aus. Die bioinspirierten, gedruckten Elemente rollen sich ein und öffnen sich. Umgekehrt geben die Zellulosematerialien bei niedriger Luftfeuchtigkeit ihre Feuchtigkeit ab und ziehen sich zusammen, wodurch sich die gedruckten Elemente abflachen und schließen.

Inspiriert von den Schuppen eines Kiefernzapfens wird die zweischichtige Struktur mit einem 4D-Druckverfahren aus zellulosehaltigen Materialien hergestellt.
Inspiriert von den Schuppen eines Kiefernzapfens wird die zweischichtige Struktur mit einem 4D-Druckverfahren aus zellulosehaltigen Materialien hergestellt. Foto: ICD/IntCDC University of Stuttgart

„Inspiriert von den hygroskopischen Bewegungen von Kiefernzapfenschuppen und den Hochblättern der Silberdistel ist es beim „Solar Gate“ gelungen, nicht nur die hohe Funktionalität und Robustheit der biologischen Vorbilder in ein bioinspiriertes Verschattungssystem zu übertragen, sondern auch die Ästhetik der pflanzlichen Bewegungen. Dies kann als ‚Königsweg der Bionik’ betrachtet werden, da alles, was uns am biologischen Ideengeber fasziniert, auch im bioinspirierten architektonischen Produkt realisiert wurde“, sagt Professor Thomas Speck, Leiter der Plant Biomechanics Group Freiburg und Sprecher des Exzellenzclusters Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) der Universität Freiburg.

Mit Hilfe des bioinspirierten 4D-Drucks und biobasierten Zellulosematerialien hat das Forschungsteam ein adaptives Verschattungssystem entwickelt, das auf tägliche und saisonale Wetterveränderungen reagiert.
Mit Hilfe des bioinspirierten 4D-Drucks und biobasierten Zellulosematerialien hat das Forschungsteam ein adaptives Verschattungssystem entwickelt, das auf tägliche und saisonale Wetterveränderungen reagiert. Foto: ICD/IntCDC University of Stuttgart

Architektonische Integration von selbstformenden Elementen

Das Forschungsteam testete die Funktionalität und Haltbarkeit des bioinspirierten adaptiven Verschattungssystems über ein Jahr lang unter realen Wetterbedingungen. Dann wurde das „Solar Gate“ an der livMatS Biomimetic Shell angebracht, einem Baudemonstrator des Exzellenzclusters IntCDC und des Exzellenzclusters livMatS, der als Forschungsgebäude der Universität Freiburg dient. Das Verschattungssystem, das an einem nach Süden ausgerichteten Dachfenster installiert ist, unterstützt die Klimaregulierung des Gebäudes. Im Winter öffnen sich die Verschattungselemente und lassen Sonnenlicht herein, so dass der Innenraum sich auf natürliche Weise erwärmt. Im Sommer schließen sie sich und minimieren die Sonneneinstrahlung. Angetrieben werden diese Prozesse ohne elektrische Energiezufuhr, allein durch tägliche und saisonale Wetterveränderungen.

Das „Solar Gate“ stellt somit eine energieautarke und ressourceneffiziente Alternative zu herkömmlichen Verschattungssystemen dar. Da für den Komfort in Innenräumen typischerweise viel Energie benötigt wird und Gebäude einen erheblichen Anteil an den weltweiten Kohlenstoffemissionen haben, sind Lösungen zur Verringerung des Energiebedarfs für Heizung, Kühlung und Lüftung von großer Bedeutung. Das „Solar Gate“ unterstreicht das Potenzial zugänglicher, kostengünstiger Technologien wie der additiven Fertigung und zeigt auf, wie Zellulose als reichlich vorhandenes, erneuerbares Material zu nachhaltigen architektonischen Lösungen beitragen kann.

Projektpartner

Das „Solar Gate“ wurde gemeinsam entwickelt von der Plant Biomechanics Group Freiburg, dem Institut für Mikrosystemtechnik (IMTEK) und dem Exzellenzcluster Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials System (livMatS) der Universität Freiburg sowie vom Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD), dem Institut für Kunststofftechnik (IKT) und dem Exzellenzcluster Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC) der Universität Stuttgart.

Weitere Informationen

Cheng, T., Tahouni, Y., Sahin, E.S., Ulrich, K., Lajewski, S., Bonten, C., Wood, D., Rühe, J., Speck, T., Menges, A.: 2024, Weather-responsive adaptive shading through biobased and bioinspired hygromorphic 4D-printing. Nature Communications, vol. 15, no. 1. (DOI: 10.1038/s41467-024-54808-8)

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