Siegelement der Uni Freiburg in Form eines Schildes

„Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche vom Einkaufen bis zum Klimawandel“

Freiburg, 17.07.2025

Technik und Medien, die Atombombe, Ökologie und die Rolle des Menschen: Solche Themen beschäftigten den Philosophen Günther Anders (1902-1992) – und sie beschäftigen Dr. Christian Dries, der seit August 2023 die Günther-Anders-Forschungsstelle am Soziologischen Institut der Universität Freiburg leitet. Im Interview spricht er über Digitalethik, die Rolle von Bildern und Apokalyptiker im Silicon Valley.

Herr Dries, Sie sind Soziologe und arbeiten mit philosophischen Ansätzen zu Themen wie Technik und digitalem Wandel. Wie passt das zusammen?

In der soziologischen Theorie gibt es ja viele Überschneidungen mit der Philosophie – und viele Grenzgänger von Marx bis Foucault… Die überzeugendere Antwort auf Ihre Frage lautet aber: Der Prozess der Digitalisierung ist ein Querschnittsthema. Sowohl der Soziologe und Philosoph als auch die Umweltwissenschaftlerin, die Juristin und natürlich die technischen Fächer können etwas zur Erhellung beitragen. Deshalb wäre es fast schon ein Fehler, auf solche Phänomene nur aus einer Perspektive zu blicken.

Wie verändert denn der digitale Wandel unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst?

Wir sind heute permanent online und erledigen alle möglichen Tätigkeiten über das Smartphone – von Bankgeschäften über die Kommunikation mit der Familie bis zum Beziehen von Informationen; das ist eine deutliche Veränderung gegenüber der Zeit vor 30 Jahren. Aber es geht weiter: Bekanntlich beziehen wir mit dem Smartphone nicht nur etwas, sondern uns wird auch etwas abgezogen – und zwar nicht nur unsere Daten, sondern auch unsere Aufmerksamkeit. Studien weisen darauf hin, dass sich auch unsere psychischen Zustände durch die Dauerbenutzung digitaler Endgeräte dauerhaft verändern. Außerdem könnten wir viele Berufe gar nicht mehr ausüben, wenn wir uns gegen Digitalisierung sperren würden – Tätigkeiten ändern sich, andere Anforderungen werden an uns gestellt. Auch ökologische Fragen spielen eine Rolle, etwa beim Abbau seltener Erden für Endgeräte und dem massiven Energieverbrauch durch Serverfarmen. Letztlich sind heute alle Alltags- und Lebensbereiche vom täglichen Einkaufen bis zu globaler Ungleichheit und Klimawandel von der Digitalisierung durchdrungen. Und hinzu kommt noch eine Ideologie, die Digitalisierung und künstliche Intelligenz als Lösung für alle Probleme propagiert…

Wie gehen Sie diese Themen an?

Indem ich mir die ganze Palette der Phänomene anschaue und versuche, sie mit theoretischen Instrumenten zu bearbeiten. Eine Grundlage ist hierbei Günther Anders’ Axiom, dass Technik nicht neutral ist. Eine alte Vorstellung lautet ja, Technik sei einfach ein Werkzeug für die Zwecke von autonomen menschlichen Subjekten. Anders hat dem entgegengehalten: Die moderne Technik ist nie nur neutrales Mittel – sie hat schon Zwecke in sich selbst. Er nennt sie deshalb sogar eine „Pseudoperson“, die mit uns interagiert. Mit Blick auf das Smartphone könnte man heute mehr denn je sagen, dass er Recht hatte…

Ein Portraitbild von Dr. Christian Dries.

„Anders ist ein Philosoph, der am Puls der Zeit sein wollte; das sollten wir auch selbst tun. Aber man kann auch aus seinen Schriften zum Fernsehen etwas lernen, das uns heute vielleicht beim Nachdenken über Social Media weiterhelfen könnte.“

Dr. Christian Dries

Institut für Soziologie, Universität Freiburg

Sie haben Günther Anders angesprochen; sie leiten die nach ihm benannte Forschungsstelle. Anders hat sich schon in den 1950er Jahren kritisch mit Massenmedien und gesellschaftlicher Kommunikation befasst. Was können wir heute – in Zeiten von Social Media, Künstlicher Intelligenz und Fake News – daraus lernen?

Man könnte an Anders’ berühmten Aufsatz „Die Welt als Phantom und Matrize“ denken, wohl der erste philosophische Text über das Fernsehen, aus einer Zeit, als das Phänomen gerade erst aufkam. Sprich: Anders ist ein Philosoph, der am Puls der Zeit sein wollte; das sollten wir auch selbst tun. Aber man kann auch aus seinen Schriften zum Fernsehen etwas lernen, das uns heute vielleicht beim Nachdenken über Social Media weiterhelfen könnte: Etwa, dass wir in einem „postliterarischen“ Zeitalter leben, das zugepflastert ist mit Bildern. Ständig wird uns die Welt ins Haus gebracht, zum Beispiel bei der Liveübertragung eines Fußballspiels. Irgendwie sind wir dabei – aber irgendwie auch nicht. Und wir sehen nur einen bestimmten Bildausschnitt. Umgekehrt muss sich die Welt zunehmend nach den Bedürfnissen der Technik richten, Stadien müssen zum Beispiel für Fernsehkameras geeignet sein. Die so entstehenden Bilder, sagt Anders, bilden also gerade nicht eins zu eins die Wirklichkeit ab, sondern sie sind immer schon Urteile in Bildform, die ihre Urteilsform verschleiern. Das Bild präsentiert uns eine Aussage über die Welt – aber nur indirekt und meist von uns unbemerkt.

Klingt tatsächlich ein bisschen nach Instagram…

Genau, das Bild wirkt unmittelbar und scheinbar neutral, ist aber hochgradig komponiert und suggestiv.

Ein Portraitbild von Dr. Christian Dries.

„Wie unterscheide ich wahr und falsch in Zeiten von Social Media, wie finde ich heraus, wer da eigentlich spricht und das finanziert? Dazu gehört also auch die Kritik an den materiellen Voraussetzungen der Digitalwirtschaft.“

Dr. Christian Dries

Institut für Soziologie, Universität Freiburg

„Digitalethik“ ist einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte. Was ist damit gemeint?

Digitalethik ist eine Art Schirmbegriff, unter dem sich viele unterschiedliche Fragen versammeln. Zum Beispiel: Wie unterscheide ich wahr und falsch in Zeiten von Social Media, wie finde ich heraus, wer da eigentlich spricht und das finanziert? Dazu gehört also auch die Kritik an den materiellen Voraussetzungen der Digitalwirtschaft – seien es die Ausbeutung von Menschen, die dort arbeiten, oder unsere Ausbeutung als kostenlose Datenlieferanten und nicht zuletzt die ökologischen Nebenfolgen der Digitalisierung. Im Grunde ist Digitalethik eine Art Antwortversuch aus ethischer Perspektive auf all die schon angesprochenen Fragen, die mit der Digitalisierung verbunden sind.

Sie selbst nutzen YouTube für Ihre Inhalte; auch bei X, vormals Twitter, sind noch dabei, oder?

In diesen Tagen wird man oft gefragt: Bist du noch bei X, ist das noch ethisch vertretbar? Eine völlig richtige Frage. Wie andere Kolleg*innen überlege auch ich das ständig … Aber ich möchte weiter mitbekommen, was da passiert, es gibt dort auch immer noch interessanten Austausch mit Gleichgesinnten. Man kann sich also dafür entscheiden, das weiter zu riskieren – das ist auch eine Haltung. Darüber hinaus hat Anders übrigens nie gesagt, man solle die Technik einfach abschaffen, das wäre ja völlig illusorisch. Man sollte sich dann nur keine Illusionen machen, welche Rolle die Technik und in diesem Fall Social Media oder eben konkret X spielen, das heißt was sie mit uns machen.

Günther Anders hat sich auch mit Atomwaffen, Atomenergie und Ökologie befasst und vor „Apokalypse-Blindheit“ gewarnt. Das klingt ebenfalls aktuell im Angesicht von politischer Weltlage und Klimakrise…

Genau. Mir ist wichtig zu sagen, dass die Forschungsstelle an der Universität Freiburg keine Stelle zur musealen Beforschung von Günther Anders ist. Die Kernidee ist es, Forschung im Sinne von Günther Anders zu betreiben, das heißt auch: im Hier und Jetzt – und da sind die angeschnittenen Fragen natürlich hoch aktuell. Was die Apokalypse betrifft, lautet eine These von Anders: Wenn man nicht sieht, welche Gefahr einem droht, dann muss man „moralische Phantasie“ bemühen. Aber apokalyptische Szenarien können natürlich auch abstumpfen, das hat er selbst auch so gesehen. Es gibt heute so viele Zombie-Serien und Weltuntergangsfilme – eigentlich müssten unser Bewusstsein und unser Gefühl so gut trainiert sein, dass wir umgehend handeln, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Beschäftigung mit der Apokalypse ist vertrackt… Hinzu kommt: Auch die Silicon-Valley-Typen sind ja letztendlich Apokalyptiker, sie warten auf das große chiliastische Reich der Maschine, Transhumanismus ist ihre große Ideologie. Also die Idee, den Menschen technisch soweit zu optimieren, dass wir die lästige sterbliche Hülle hinter uns lassen können.

Damit sind wir wieder bei der Digitalethik…

Ja, das geht in tiefe philosophische Fragen der Ethik und der Anthropologie hinein. Anders hat sich übrigens auch bei vielen anderen Fächern bedient, nicht zuletzt methodisch, zum Beispiel bei der Collagekunst der 1920er Jahre; Dadaismus und Surrealismus waren wichtige Einflüsse. Daher kommen Ideen wie die Vorstellung, dass Dinge wie Menschen agieren, diese Vertauschung von Subjekt- und Objektposition ist ja eigentlich ein surrealistischer Gedanke. Anders hat als Autor auch immer daran gedacht, wie er etwas wem sagt. Für ein TikTok-Publikum würde er heute sicher anderes schreiben – wenn er überhaupt noch schreiben würde.

Dr. Christian Dries

Dr. Christian Dries leitet die Günther-Anders-Forschungsstelle an der Universität Freiburg. Er studierte Philosophie, Soziologie, Geschichte und Psychologie und wurde mit einer Arbeit zu Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas promoviert. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören unter anderem Sozialphilosophie, Kultursoziologie, Technik und Digitalisierung, Anthropozän und Apokalypse. Sein Habilitationsprojekt unter dem Arbeitstitel „Urteilskraft. Genealogie eines Schlüsselbegriffs der Moderne“ steht kurz vor dem Abschluss. 2024 begründete Dries mit Josef Mackert von der Katholischen Akademie Freiburg die Veranstaltungsreihe „Über Leben im Anthropozän“; sie findet semesterweise in Zusammenarbeit mit dem Studium generale der Universität Freiburg und dem Theater statt.

Günther-Anders-Forschungsstelle

Die Günther-Anders-Forschungsstelle wurde zum 1. August 2023 am Institut für Soziologie der Universität Freiburg eingerichtet. Sie ist benannt nach dem bei Edmund Husserl promovierten Philosophen Günther Anders (1902-1992). Neben wissenschaftlichen Arbeiten zu Leben und Werk von Anders betreibt die Stelle hauptsächlich Forschungen zu den von ihm bedachten Themen Technik, Medien und Gesellschaft sowie zu Fragen des Anthropozäns und der sozial-ökologischen Transformation. Sie übernimmt auch die Mitbeantragung und Betreuung von wissenschaftlichen Einzelprojekten und Abschlussarbeiten und bietet sich selbst als geistes- und sozialwissenschaftlicher Partner von interdisziplinären Forschungsprojekten an.

Kontakt

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