Jörn Leonhard (*1967 Birkenfeld) erhielt den Landesforschungspreis für seine Leistungen auf dem Gebiet der Neueren und Neuesten Geschichte.
Die mit 100.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde Leonhard für seine umfassenden Monografien „Bellizismus und Nation: Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750 – 1914“ und „Liberalismus – Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters“ verliehen. Vor allem in seinem Werk über „Bellizismus und Nation“ zeigt der Freiburger Historiker, wie unterschiedlich und manchmal auch wie strukturell ähnlich Krieg und Gewalt in verschiedenen Ländern in der Vergangenheit erfahren wurden und wie sich die Konflikte der vergangenen Jahrhunderte auf nationale Selbst- und Fremdbilder auswirkten. Es ist kein Zufall, dass Einsätze deutscher Truppen wie zum Beispiel in Afghanistan sehr vorsichtig umschrieben werden. Das Wort „Krieg“ versuchen Politiker und Medien wenn möglich zu vermeiden. Im angloamerikanischen Raum ist diese Zurückhaltung dagegen nicht in dieser Form zu erkennen.
„Den meisten ist bewusst, dass Kriege eine prägende Wirkung auf eine Gesellschaft haben. Vor allem die Deutschen wissen, welches Trauma ein Weltkrieg auslösen kann“, sagt Leonhard. „Doch nationale Selbstbilder entstehen über Jahrhunderte hinweg und sind im Vergleich immer auch die Summe dessen, was an Auseinandersetzungen mit anderen Nationen stattgefunden hat.“ Der Historiker belegt in seinen Forschungsarbeiten, wie und weshalb die USA, England, Frankreich und Deutschland seit dem
18. Jahrhundert eigene kollektive Selbstbilder und ein besonderes Verhältnis zu ihren Kriegserfahrungen entwickelten. So hielt Frankreich besonders lange am Selbstbild einer militärischen Nation fest, das sich mit der Vorstellung demokratischer Teilhabe des wehrhaften Bürgers und dem Mythos der progressiven Werte der Französischen Revolution verband. „Noch im 20. Jahrhundert, im Kontext der blutigen Dekolonisierungskonflikte blieb diese Idee erkennbar und erschwerte die Auseinandersetzung mit der Gewalterfahrung, etwa in Algerien“, erklärt Leonhard.“
Eine positiv bewertete Kopplung zwischen Krieg und nationaler Revolution gab es in Deutschland dagegen nicht. Hier spielte die Erfahrung von Fremdherrschaft, unter Napoleon bis 1815, eine entscheidende Rolle. Anders als in Frankreich nach 1871 gelang den Deutschen keine positive Umdeutung der Niederlage von 1918: „Deutschland fand nach dem Ersten Weltkrieg keine kollektive Antwort auf die Niederlage. Es blieb bei der ideologisch polarisierten Suche nach den Schuldigen“, sagt Leonhard.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich dagegen im englischsprachigen Raum. Noch im 18. Jahrhundert waren in England die Vorbehalte gegen ein stehendes Heer als Zeichen des verhaßten Absolutismus groß. Doch die Kriege gegen Napoleon ließen das Militär bald zu einem nationalbritischen Symbol werden: „So wurde die Armee im 19. Jahrhundert zu einem bevorzugten Instrument der Zivilisierungsmission, welche die Engländer auch in den Kolonien anstrebten“, erklärt der Historiker. „Die militärische Präsenz demonstrierte die Überlegenheit über die Kolonialvölker. Der Krieg als Vernichtungskrieg, der sich als Modell vor allem in Deutschland vor 1914 durchzusetzen begann, blieb den Engländern aber eher fremd.“
Auch für die Vereinigten Staaten lohnt sich ein Blick auf die historischen Erfahrungen, wenn es um das Wechselspiel zwischen Krieg und nationalem Selbstverständnis geht. Ganz anders als in Europa wurden seit dem Bürgerkrieg der 1860er Jahre alle Kriege mit amerikanischer Beteiligung außerhalb des eigenen Landes ausgetragen. Die Bevölkerung war nur indirekt involviert und erfuhr Fremdherrschaft und kriegerische Gewalt nicht unmittelbar an einer Heimatfront. Überdies stand und steht in den USA immer auch der Gedanke der universellen Mission zur Demokratisierung hinter positiven Bekenntnissen zum Krieg als Mittel progressiver Politik.
Mit seiner Arbeit arbeitet der Wissenschaftler die dynamische Entwicklung der Nationen im Zuge ihrer jeweils besonderen Kriegserfahrungen heraus. Seine Bücher zeigen, dass in Europa – trotz aller Bekenntnisse zu Integration und immer mehr Ähnlichkeit – im Umgang mit kriegerischen Erlebnissen und der daraus erwachsenden nationalen Selbstdeutung erhebliche historische Unterschiede auszumachen sind. Eine gesamteuropäische Idee von Nation und Krieg gibt es dabei nicht: Den Begriffen „Krieg“, „war“ und „guerre“ liegen jeweils andere Erfahrungen zugrunde, die unterschiedliche Bestimmungen von Nationen hervorgebracht haben.