Edmund Husserl (1859-1938) gilt als Begründer der Phänomenologie und als einer der wirkmächtigsten Vertreter der Philosophie im 20. Jahrhundert. 1916 wechselte er von Göttingen an die Universität Freiburg und richtete deren vom Neukantianismus geprägtes philosophisches Profil neu aus. In den Folgejahren wurde Husserl immer bekannter. Ein Ruf an die Berliner Universität im Jahr 1923, Ehrendoktorwürden, Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Akademien (London, Paris, Boston) und Vorträge an bedeutenden Universitäten mehrten Husserls Ansehen und zogen Wissenschaftler*innen wie Studierende aus aller Welt nach Freiburg. Zu seinen Schüler*innen zählten unter anderem Edith Stein und Martin Heidegger, dessen akademische Karriere Husserl stark förderte.
Edmund Husserl, promovierter Mathematiker und habilitierter Philosoph, stellte die Suche „nach einer Beschreibungssprache für das Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen der Lebenswelt“1 in den Mittelpunkt seiner Arbeit und machte Freiburg zu einem Zentrum der Phänomenologie mit internationaler Strahlkraft. Schwer zugängliche Texte, komplexe Gedankengänge und der Anspruch, Philosophie als strenge Wissenschaft zu etablieren, machten ihn zum sogenannten ‚Philosoph für Philosophen‘, so Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander, ehemaliger Direktor des Husserl-Archivs an der Universität Freiburg.
1928 wurde Husserl emeritiert, hielt aber weiterhin Vorlesungen. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde Husserl wegen seiner jüdischen Herkunft an der eigenen Universität rasch und immer stärker ausgegrenzt. Zwar feierte die Universität am 23. Januar 1933 mit zeremoniellem Aufwand Husserls 50-jähriges Doktorjubiläum, aber bereits am 6. April 1933 entzog sie ihm die Lehrerlaubnis. Als Rektor stellte sich Martin Heidegger – von 1916 bis 1922 Husserls engster Mitarbeiter und seit 1928 sein Nachfolger auf der Professur – in den Dienst der neuen Machthaber und unternahm daher nichts zum Schutz seines Lehrers. Ab 1936 verschwand Husserls Name aus allen Universitätsverzeichnissen. Auch Husserls Tod am 27. April 1938 nahm die Universität offiziell nicht zur Kenntnis. Wer ihm trotz der Repressalien damals loyal zur Seite stehen wollte, musste es wie Eugen Fink, sein ehemaliger Assistent, oder das Freiburger Ehepaar Walter und Edith Eucken als Privatpersonen tun.2
Husserl hinterließ mehr als 40.000 stenographierte Manuskriptseiten.3 Der belgische Franziskaner Pater Hermann Leo van Breda rettete Husserls Nachlass vor den Nationalsozialisten und brachte ihn ins belgische Leuven, wo an der Katholischen Universität 1939 das erste Husserl-Archiv gegründet wurde. Ein weiteres folgte 1950 in Freiburg auf Initiative von Eugen Fink, der nach dem Krieg hier die Professur für Philosophie und Erziehungswissenschaft innehatte. Ein drittes entstand 1951 an der Universität zu Köln.4 Das Freiburger Husserl-Archiv war in der Anfangszeit als Forschungsstelle konzipiert. Für Hans-Helmuth Gander bezeugen die Berufung von Eugen Fink und die Gründung des Husserl-Archivs in Freiburg den klaren Willen zu einem Neuanfang sowie ein Bekenntnis zur Weiterführung der phänomenologischen Tradition. Später hat das Freiburger Archiv gemeinsam mit den Archiven in Leuven und Köln die Herausgabe der Gesammelten Werke Edmund Husserls als Editionsarchiv betreut. Als international vernetztes Forschungszentrum für klassische und moderne Phänomenologie fördert es heute das Ansehen Freiburgs als Stätte der Innovation und Tradition der phänomenologischen Philosophie.
Die Universität setzt sich heute kritisch mit der eigenen Geschichte und dem Handeln der Universität Freiburg während der NS-Herrschaft auseinander. Dafür steht auch das 2003 vom damaligen Rektor Wolfgang Jäger initiierte und dem Kölner Künstler Marcel Odenbach geschaffene Mahnmal: In der Eingangshalle des Kollegiengebäudes I sind die Namen jener Universitätsmitglieder aufgeführt, denen die Universität als NS-Institution Unrecht zugefügt hat und die aus rassistischen oder politischen Gründen entlassen, exmatrikuliert oder anderweitig diskriminiert, verfolgt und ermordet wurden. Das Mahnmal soll als lebendiges Objekt verstanden werden und kann – sofern weitere Schicksale von in der NS-Zeit diskriminierten und verfolgten Opfern bekannt werden – um weitere Namen ergänzt werden. An diesem Ort soll das das Schicksal der Opfer fester und alltäglich gegenwärtiger Bestandteil der universitären Erinnerung sein.
Gespräch zum Husserl-Archiv mit Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander