Bessere Bildungschancen für Kinder aus Bauern- und Arbeiterfamilien: Dieses Ziel verfolgten Studierende 1965 mit der Kampagne „Student aufs Land“. Dafür tauschten sie den Hörsaal gegen den Gemeindesaal und Vorlesungen gegen selbstorganisierte Vortragsabende.
Als Maßnahme gegen den in den frühen 1960er Jahren konstatierten Bildungsnotstand organisierten Freiburger Studierende 1965 die Kampagne „Student aufs Land“. Mit dem Schlagwort Bildungsnotstand wurde Kritik am deutschen Bildungssystem geübt. „Überfüllte Hörsäle und schlecht ausgestattete Universitäten“1wurden ebenso beanstandet wie „ungenügende Schulausstattung, fehlendes Lehrpersonal und schlechte Lehrerausbildung“ 2. Besonders kritisiert wurde, dass Arbeiterkinder und Mädchen kaum höhere Schulen besuchten und Bildungschancen von Stadt- und Landbevölkerung in katholischen und protestantischen Regionen höchst ungleich waren.3
Mit markigen Worten auf Transparenten für bessere Bildungschancen für Mädchen und für Kinder aus Bauern- und Arbeiterfamilien zu demonstrieren, von denen damals nur zwei bis fünf Prozent an einer Hochschule eingeschrieben waren, ging den Freiburger Studierenden nicht weit genug. Die jungen Frauen und Männer wollten an der Basis ansetzen – und gingen dafür in die Dörfer und Gemeinden Südbadens von Lahr bis nach Lörrach. Dort veranstalteten sie Vortragsabende, an denen sie unter anderem bei Eltern, Lehrkräften und Politiker*innen dafür warben, dem Nachwuchs den Besuch einer weiterführenden Schule zu ermöglichen.4 Mit großem Engagement: „Mitte März 1965 hatten hundertzwanzig studentische Referenten und PKW-Fahrer, die auf jede Vergütung verzichtet hatten und nur ihre unmittelbaren Auslagen ersetzt bekamen, vierzigtausend Fahrkilometer zurückgelegt und in vierhundert Landgemeinden vor rund achtzehntausend Zuhörern Vorträge gehalten.“5
Die Bildungskampagne erreichte ihr Ziel. In seinem Artikel „Student aufs Land“, der 1966 in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ erschien, schreibt der Freiburger Student Ignaz Bender, dass in Südbaden im Vergleich zum Vorjahr 32,7 Prozent mehr Kinder in Mittelschulen angemeldet wurden. Im Landesdurchschnitt seien es nur 15,3 Prozent gewesen. Zudem habe die Freiburger Initiative Studierende aus Saarbrücken, Heidelberg, Tübingen und München inspiriert. Neben der medialen Aufmerksamkeit bekam die bis dato einmalige Aktion auch bundesweite Anerkennung. 1967 erhielt die Initiative unter dem Jahresmotto „Verantwortung ist Bürgerpflicht“ die Theodor-Heuss-Medaille.
Aus heutiger Sicht ist die Initiative „Student aufs Land“ richtungsweisend: Sie zeigt, welche positiven Veränderungen möglich sind, wenn Universitäten und Gesellschaft in Dialog treten und gemeinsam daran arbeiten, gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen. Gleichzeitig nimmt das Beispiel dieser Initiative die Universität der Gegenwart in die Verantwortung, weiterhin einer echten Chancengleichheit entgegenzustreben – denn diese ist auch fast fünfzig Jahre nach „Student aufs Land“ noch nicht erreicht.